logo

ProMann

Prostatakrebs-Selbsthilfegruppe Hamburg
Mitglied im

Bundesverband Prostatakrebs-Selbsthilfe e.V. (BPS)

   

 

Evidenzbasierte Medizin

Was ist "Evidenz"?
Ist "Evidenzbasierte Medizin" die Lösung?

Fragen, Überlegungen und Suchpfade aus der Sicht von eher ernsthaft (Krebs-)Erkrankten

In diesem Debattenbeitrag im BPS-Forum vom 15.05.2009
hiess es, geäussert von einem mitdiskutierenden Strahlentherapeuten:

"Leitlinien + Studienergebnisse sind die Basis jeder Evidenz.
Ohne diese gibt es keine Evidenz, sondern nur Hexerei."

Ist das das aktuelle Problem, dass uns in der Suche nach geeigneten Krebs-Therapien umtreibt?
Dass wir Evidenz und keine Hexerei wollen?

Dass wir, um nicht zurück ins Mittelalter zu fallen, unbedingt auch in unserer Selbsthilfeorganisation die Orientierung an der "Evidenz" durchsetzen müssen?
In der damaligen Diskussion, die unter dem Titel "Wissenschaft oder Dogmatik ?" lief,
plädierte ein Mitdiskutant genau so:
"Aber ich meine, dass wir in Zukunft auch in der Selbsthilfearbeit viel mehr darauf achten müssen, dass Evidente Medizin Grundsatz ist."

Mittlerweile ist für das Prostatakarzinom eine qualitativ hochwertige S3-Leitlinie erarbeitet worden, die vor allem für frühe Stadien des Prostatakarzinoms einen nachvollziehbaren Behandlungs-Korridor bietet.

In der Leitlinie heisst es:
"... ist ein evidenz- und konsensbasiertes Instrument, um Früherkennung, Diagnostik und Therapie des Prostatakarzinoms zu verbessern."

Manche Mitstreiter meinen nun, evidenz- und konsensbasiert, was wollen wir mehr?
Und da ja niemand bei dieser schweren Erkrankung unwissenschaftliches Zeug hören möchte und "evidenzbasiert" mit "wissenschaftlich" oder "streng wissenschaftlich" in eins gesetzt wird, kann schon mal die Schlussfolgerung gezogen werden, dass alle vorhandene und mögliche "Evidenz" ja nun formuliert ist und dass deshalb alles andere ausgeschlossen gehört:

"Ich halte es für notwendig, daß der BPS von seinen Selbsthilfegruppen leitliniengerechte Arbeit erwartet
und seinen Mitgliedern nahelegt, keine exotischen oder experimentellen Sachen zu verbreiten."
(Beitrag eines anonymen Diskutanten im BPS-Forum, 9.1.2012)

Das ist die Crux: Hexerei, exotische, nicht-abgesicherte Behandlungsmethoden, experimentelle Sachen, die nicht durch den Stand der Wissenschaft gedeckt sind - das alles will keiner, und trotzdem bleibt ein Unbehagen, denn in der Bekämpfung der Krebs-Geissel kommen wir nur wenig oder gar nicht voran.

Zudem gibt die S3-Leitlinie bzw. der "Stand der Wissenschaft" bzgl. der Behandlung des fortgeschrittenen Prostatakarzinoms nach wie vor nicht viel her. Auch die kürzlich zugelassenen neuen Medikamente mit ihren Wirkstoffen Abiraterone und Cabazitaxel ändern die Situation fortgeschritten Erkrankter nicht grundlegend, sofern sie im Einzelfall überhaupt wirken.
Männer mit metastasierender Erkrankung sind gezwungen, über den Tellerrand der S3-Empfehlungen hinaus nach weiteren Behandlungs-Möglichkeiten zu suchen,
wollen sie nicht das "Ich kann für Sie nichts mehr tun" des Leitlinien-Arztes hören.

Damit liegen aber gleich gewichtige Fragen auf dem Tisch:

1. Kann es denn überhaupt noch Behandlungsmöglichkeiten geben, die sowohl wissenschaftlich begründet als auch mit Aussicht auf wenigstens einen gewissen Erfolg ergriffen werden könnten?
Ich denke, man kann diese 3 Fragen nur so beantworten: Ja, Nein, Nein.

1. Ja, es kann weitere Behandlungsmöglichkeiten geben, die sowohl wissenschaftlich begründet als auch mit Aussicht auf wenigstens einen gewissen Erfolg ergriffen werden können. "Absence of evidence is not evidence of absence." (Martin Rees, englischer Astrophysiker) Wobei hier noch nicht einmal untersucht ist, was denn überhaupt ein wissenschaftlicher Beweis (=engl.evidence) ist.
2. Wenn es sie geben würde, wären sie da nicht schon längst in Studien geklärt worden und bei Erfolg in die Leitlinien aufgenommen? 2. Nein, in Studien kann nur etwas im Patienten-Interesse geklärt werden, wenn diese Studien auch zustande kommen und wenn sie gut sind. Vieles hypothetisch Vielversprechendes kommt aber gar nicht in die Nähe klinischer Forschung, weil die Voraussetzungen fehlen.
Und in Leitlinien landet nur das, was nach den Standards der EbM (Evidenzbasierte Medizin) an Studienergebnissen selektiert wurde.

3. Und da das nicht so ist, müssen wir da nicht rückschliessen, dass nur Leitlinien und Studienergebnisse zählen, alles andere Unsinn ist und nur Hexerei sein kann? 3. Nein, vielmehr müssen wir uns fragen, wie Studienergebnisse zustande kommen oder eben nicht zustande kommen und was sie bedeuten.
Leitlinien sind eine begrüssenswerte Zusammenstellung von Behandlungs-Empfehlungen und stellen für den Therapeuten einen Korridor dar, in dem der Patient und er sich bewegen können, den sie aber auch verlassen können, insbesondere der Therapeut muss es nur begründen können.


Was ist "Evidenz"?

Im hier diskutierten Zusammenhang zunächst einmal eine Falschübersetzung aus dem Englischen.
Während "evidence" im Englischen "Nachweis, Beweis" bedeutet, ist das deutsche Wort Evidenz das Gegenteil: "Deutlichkeit, völlige Klarheit". Etwas, das nicht mehr bewiesen werden muss, weil es auf der Hand liegt, evident ist.

Während wir seit Jahr und Tag und immer mehr die Falschübersetzung benutzen, bleibt im deutschen Sprachgedächtnis im Hintergrund die ursprüngliche Bedeutung erhalten. Das führt zu der verrückten Situation, dass man nur noch "Evidenz" oder "evident" sagen muss und alles ist klar.

Wenn es für irgendwas Vorgeschlagenes "keine Evidenz" gibt, ist die Diskussion zu Ende. Es ist im deutschen Sprachraum nicht zu vermeiden, dass die deutsche Bedeutung des Wortes in der Handhabung von "Evidenzbasierter Medizin" sich einschleicht.

"Beweisgesicherte Medizin" statt Ärzte-Willkür, mehr Behandlungs-Sicherheit für Patienten auf der Basis einer Kombination von gut ausgebildeter ärztlicher klinischer Expertise und externer wissenschaftlicher Beweisführung. Mit diesem begrüssenswerten Ziel der Verbesserung der Behandlungssituation einzelner Patienten hat die EbM mal angefangen.

Auf der homepage "Deutsches Netzwerk Evidenzbasierte Medizin e.V." findet sich die Übersetzung eines englischen Textes aus dem Jahre 1996 "Evidence based medicine: what it is and what it isn't"

In diesem lesenwerten Artikel heisst es: "Gute Ärzte nutzen sowohl klinische Expertise als auch die beste verfügbare externe Evidenz, da keiner der beiden Faktoren allein ausreicht: Ohne klinische Erfahrung riskiert die ärztliche Praxis durch den bloßen Rückgriff auf die Evidenz "tyrannisiert" zu werden, da selbst exzellente Forschungsergebnisse für den individuellen Patienten nicht anwendbar oder unpassend sein können. Andererseits kann ohne das Einbeziehen aktueller externer Evidenz die ärztliche Praxis zum Nachteil des Patienten leicht veraltetem Wissen folgen."


Eine gute Gegenüberstellung. Deswegen noch einmal:


"Ohne klinische Erfahrung riskiert die ärztliche Praxis durch den bloßen Rückgriff auf die Evidenz "tyrannisiert" zu werden, da selbst exzellente Forschungsergebnisse für den individuellen Patienten nicht anwendbar oder unpassend sein können."





Tyrannisiert wird in erster Linie der Patient. Insbesondere, wenn er die in seiner vermaledeiten Individualität nun gar nicht in die aus den statistischen Durchschnittsannahmen grosser Studien-Kollektive gezogenen Erwartungen erfüllen kann. Dann wird er durch die wenigen Leitlinien-Optionen gepeitscht: Therapie 1, funktioniert nicht; Therapie 2, funktioniert nicht; Palliation 3, "ich kann nichts mehr für Sie tun".
"Andererseits kann ohne das Einbeziehen aktueller externer Evidenz die ärztliche Praxis zum Nachteil des Patienten leicht veraltetem Wissen folgen." Die Frage ärztlichen Urteilsvermögens und (Weiter-)Bildungsstandes ist kriegsentscheidend: Für den einzelnen Patienten kann nur der unmittelbare Arzt-Wechsel empfohlen werden, wenn nicht einmal Leitlinien-Wissen oder Fachzeitschrift-Lektüre feststellbar ist.


Die Frage der Übertragung statistischer Studienergebnisse auf die individuelle Situation des Einzelnen bedarf einer eigenen Überlegung.

Der Gemeinsame Bundessausschuss (G-BA) erläutert unter der Überschrift "Nutzenbewertung nach den Kriterien der evidenzbasierten Medizin" , wie die EbM bei der Nutzenbewertung von Arzneimitteln und Behandlungsmethoden verstanden wird:

"Die Methoden der evidenzbasierten Medizin wurden ursprünglich für die Versorgung individueller Patientinnen und Patienten entwickelt. Im Rahmen der evidenzbasierten Gesundheitsversorgung werden diese Methoden der systematischen Recherche und Beurteilung wissenschaftlicher Literatur auf die Versorgung von Bevölkerungsgruppen übertragen."


Auf der Suche nach geeigneten "wissenschaftlichen Studien zu dem entsprechenden Thema", die die "aktuelle wissenschaftliche Erkenntnis" widerspiegeln, ist sich der G-BA sicher:

"Auf diese Weise können die in den Studien erhobenen Erfahrungen sehr vieler Menschen mit einer medizinischen Methode systematisch für die Entscheidungsfindung herangezogen werden."

Es geht also nicht um irgendwelche Studien, sondern um solche mit hohen Fallzahlen.
Das führt zu folgenden 2 Fragen:
Wie valide ist die Übertragung von medizinischen Erkenntnissen von einem Menschen auf den anderen? Je allgemeiner, desto mehr - je spezifischer, desto weniger.
Eicosanoide kann jeder produzieren, also wirkt Cortison bei jedem.
Einen 5-alpha-Reduktase-Polymorphismus haben die wenigsten, also wirkt Dutasterid/Finasterid nur bei den anderen, der Mehrzahl.
Wieso geht mit der Erhöhung der Fallzahlen eine Verbesserung der Aussagekraft von Studienergebnissen einher? Geht sie gar nicht, was sich verbessert, ist die statistische Wahrscheinlichkeit, dass das Ergebnis nicht zufällig ist.
Je stärker der entdeckte Wirk-Effekt ist, desto weniger Probanden sind für den Nachweis nötig.
Und umgekehrt: Je schwächer der Effekt, desto mehr Probanden brauche ich. Aber aus der statistischen Signifikanz, so sie denn erzielt werden kann, folgt nicht, dass im klinischen Alltag für den einzelnen auch eine "signifikante" Hilfe gegeben ist.


Eine grundsätzliche Kritik an der EbM ist kürzlich von 2 Autoren erschienen, in Buchform, aber auch als Kurzfasssung in diesem Artikel nachlesbar:
"Evidence-Based Medicine: Neither Good Evidence nor Good Medicine"
Steve Hickey und Hilary Roberts haben ihr Buch, im Herbst 2011 erschienen, benannt:
"Tarnished Gold: The Sickness of Evidence Based Medicine"

R.S., 29.01.2012 ( wird fortgesetzt, sobald ich das o.a. Buch beschafft und gelesen habe )